Das Buch Esra-Nehemia

Thema: Heimkehr und Neuanfang

Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde, Männer und Frauen und alle, die es verstehen konnten, am ersten Tage des siebenten Monats und las daraus auf dem Platz vor dem Wassertor vom lichten Morgen an bis zum Mittag vor Männern und Frauen und wer’s verstehen konnte. Und die Ohren des ganzen Volks waren dem Gesetzbuch zugekehrt.

Platz im Kanon

In der jüdischen Tradition in den Ketuvim, meist als vorletztes Buch vor der Chronik. In der griechischen, lateinischen und heutigen christlichen Tradition zwei einzelne Bücher Esra und Nehemia, hinter der Chronik.

Zusammengehörigkeit von Esra und Nehemia

In der jüdischen Tradition bilden die beiden Texte zusammen ein Buch, das den Titel „Esra“ trägt. Eine Teilung wurde in der christlichen Überlieferung vorgenommen, wahrscheinlich, weil der Beginn der „Nehemia-Memoiren“ in Neh 1,1 wie ein Buchanfang klingt. Die Teilung wurde später von den Juden übernommen.

Inhaltlich lässt sich die Zusammengehörigkeit des Textes leicht zeigen: Die Mission des Esra wird in Esr 7 angekündigt. Die vollständige Ausführung wird aber erst in Neh 8–10 berichtet.

(Zur Diskussion, ob Chronik, Esra und Nehemia zusammen ein sog. „Chronistisches Geschichtswerk“ bilden, siehe bei der Chronik.)

Gattung, Autorschaft und Datierung

Esra-Nehemia ist als Ganzes eine historisch-theologische Erzählung, teilweise autobiographisch. Das Buch vermittelt einen historischen Überblick über die Zeit der Wiederherstellung Israels, gleichzeitig werden aber auch theologische Aussagen zum Thema der Wiederherstellung gemacht.

Der Verfasser (Endredaktor) des Buches ist anonym. Größere Teile des Buches gehen auf Esra und Nehemia zurück. Wahrscheinliche Datierung der Endfassung des Buches nicht lange nach den letzten darin berichteten Ereignissen, d. h. vor 400 v. Chr.[1]

[1]      Steins (in Zenger u.a., Einleitung 92016,341–342.346) schlägt eine mehrstufige Entstehung mit Redaktionen unter verschiedenen Interessen in schriftgelehrten Milieus bis ins 3. Jh. v. Chr. vor. Dillard / Longman (Introduction, 205–206) sprechen sich für eine Verarbeitung von Quellen und gegen eine genauere Bestimmung von Verfassern und Datierung aus. Childs (Introduction, 631–634) spricht sich für eine mehrstufige Entstehung inklusive einer Redaktion nach dem Chronisten, sowie einer gezielten thematischen Anordnung und Auswahl der berichteten Ereignisse aus. Williamson (Ezra, Nehemia WBC, xxxv–xxxvi) geht von einem mehrstufigen Entstehungsprozess aus, der um 300 v. Chr. abgeschlossen wurde. (Fußnote erstellt von Jens Winarske)

Esra 1-6
Esra 7-10
Nehemia 1-6
Nehemia 7-13

Literarische Quellen

Der Verfasser des Buches hat eine größere Anzahl von Quellen in sein Werk eingearbeitet. In Esra 1–6 sind dies eine Liste von Heimkehrern sowie vier offizielle Briefe, welche die politische Situation der Zeit widerspiegeln. Die Briefe und auch einige der verbindenden Passagen zwischen den Briefen sind auf aramäisch geschrieben (Esra 4,8–6,18, 7,12–26), da dies die Verwaltungssprache der persischen Zeit war.

Die beiden wichtigsten Quellen sind allerdings Texte, die in der ersten Person von Esra und von Nehemia handeln. Die sogenannten Esra-Memoiren sind hauptsächlich in Esra 7–10 und Nehemia 8 eingearbeitet. Die Nehemia-Memoiren erstrecken sich auf Nehemia 1–7, 12 und 13.

Weitere literarische Formen, die in den Text eingearbeitet sind, sind königliche Erlässe (z. B. Esra 1,1–4; 7,12–26), Bekenntnisse und Gebete (z. B. Esra 9,5–15; Nehemia 1,4–11; 9,1–37) sowie andere juristische Dokumente (Nehemia 10,1–40). Letztlich gehen nur etwa 10 % des Textes auf den Herausgeber selbst zurück.

Die historische Zuverlässigkeit der Quellentexte ist im Allgemeinen anerkannt. Allerdings präsentiert der Autor sein Material nicht in einer strikten chronologischen Folge. Vor allem in Nehemia 7–12 sind unterschiedliche historische Horizonte miteinander verschmolzen, um ein Gesamtbild dessen zu vermitteln, was Restauration ausmacht. Dies erschwert die historische Rekonstruktion. Von der literarischen Seite aus betrachtet, ist dies aber auch die Stärke des Buches: Obwohl der Verfasser mehr als 90 % des Textes anderen Quellen entnommen hat, handelt es sich bei dem Buch insgesamt nicht um eine Sammlung, sondern um ein literarisch gestaltetes Ganzes.

Esra-Nehemia

Bibelkunde-Skript

3.3.10 Esra-Nehemia

Aufbau und Botschaft (wissenschaftlich)

Auf dieser Seite

Inhalt

Esra 1–6

Gott legt dem Perserkönigs Kyrus auf, ein Haus zu seiner Ehre in Jerusalem zu bauen. Der König ruft das Volk zur Hilfe am Wiederaufbau des Tempels auf, wodurch die Worte des Jeremia sich bewahrheiten. Ihre Nachbarn geben ihnen wertvolle und nützliche Gegenstände mit, Kyrus selbst händigt Serubbabel, dem Anführer dieser Unternehmung, die von Nebukadnezar entwendeten heiligen Gefäße aus.

In Kap. 2 wird ein Verzeichnis der heimkehrenden Israeliten aufgeführt. Insgesamt kehren ungefähr 50.000 Israeliten zurück. Einige Sippenoberhäupter stiften Gaben, sodass eine große Summe an Gegenständen und Materialien für den Bau des Tempels zusammenkommt.

Noch vor dem Bau des Tempels errichten die Zurückgekehrten einen Altar und beginnen mit dem Opferdienst. Alle Feste und Opfergaben werden eingehalten. Im nächsten Jahr wird auch das Fundament des Tempels gelegt. Das Volk bricht in lauten Jubel aus, doch weinen die älteren Priester, da sie die Pracht des alten Tempels kannten.

Die Samaritaner wollen trotz ihrer Feindseligkeit mit den Israeliten am Bau des Tempels beteiligt sein. Nachdem Serubbabel, Jeschua und die anderen Sippenoberhäupter dies verbieten, werden die Juden von den Samaritanern eingeschüchtert. Die Samaritaner bestechen sogar die Berater des Kyrus, sodass der Tempelbau bis zur Regierungszeit von Darius verzögert wird. Zu Regierungszeiten von Artaxerxes verfassen die Feinde einen Brief, in welchem sie vor den Israeliten warnen und den Bau der Stadt verhindern wollen. Nachdem Ataxerxes Nachforschungen betrieben hat, fordert er, den Bau der Stadt zu unterbrechen.

Die Propheten Haggai und Sacharja sprechen zum Volk und machen ihm Mut, sodass Serubbabel und Jeschua beschließen, den Bau des Tempels wieder aufzunehmen. Kurz nach ihrem Beginnen werden sie aber gleich von dem Statthalter des Gebiets westlich des Euphrats und anderen zur Rede gestellt, wer dieses Vorhaben wieder erlaubt hätte. Die Israeliten erläutern die Hintergründe und beziehen sich auf Gott, die Ankläger verschriftlichen dies und teilen es König Darius mit.

Darius recherchiert in den Chroniken und findet den Auftrag des Kyrus. Daraufhin verfasst er ein Schreiben an die Ankläger und beauftragt diese, den Bau keineswegs zu verzögern, sondern unterstützend zu wirken, auch finanziell. Unter der Ermutigung von Haggai und Sacharja wird der Tempel im 6. Regierungsjahr von Darius fertiggestellt und feierlich eingeweiht. Nach der Einteilung der Priester und Leviten wird voller Freude auch das Passahfest gefeiert.

Esra 7–10

In der Regierungszeit des Artaxerxes zieht der Schriftgelehrte Esra mit vielen Israeliten nach Jerusalem. Dort widmet sich Esra der Erforschung, Befolgung und Unterweisung des Gesetzes. Artaxerxes gibt ihm den doppelten Auftrag, das Gesetz des Mose unter der Bevölkerung in Kraft zu setzen und für den ordnungsgemäßen Kultbetrieb am Tempel zu sorgen. Der König selbst gibt großzügig Gold sowie Silber mit und beauftragt die Schatzmeister, Esra zu helfen. Außerdem soll Esra rechtskundige Männer und Richter einsetzen, die das Recht sprechen.

Es folgt eine Liste der ausgezogenen Israeliten, außerdem werden die Gewichte von Gold und Silber aufgeführt. Die Reisenden starteten am Kanal bei Ahawa, und da sie dem König von der Macht und dem Schutz Gottes berichtet haben, werden sie nicht eskortiert. Gottes Hand ist über ihnen und bewahrt sie vor Feinden und Räubern, sodass alle wohlbehalten ankommen und die Gegenstände abgegeben werden.

Esra wird berichtet, dass einige im Volk sich mit den anderen Völkern eingelassen haben, jetzt Götzen dienen und Mischehen eingehen. Er leidet sehr darunter, betet zu Gott, dankt ihm für seine Gnade der Rückkehr und bekennt die Schuld des Volkes.

Schechanja begegnet dem weinenden Esra und schlägt ihm vor, nun tatkräftig zu werden und einen neuen Bund zu schließen. Alle aus der Verbannung zurückgekehrten Israeliten sollen sich binnen drei Tagen in Jerusalem einfinden. Esra konfrontiert sie mit ihrer Schuld und ruft dazu auf, die Schuld zu bekennen und sich von den Völkern und heidnischen Frauen zu trennen. Aufgrund der großen Anzahl wählt Esra einige Sippenoberhäupter aus, die alle Fälle untersuchen. Es folgt eine Liste der Männer, die mit heidnischen Frauen verheiratet waren. Sie willigen ein und trennen sich von diesen Frauen.

Nehemia 1–6

Nehemia bekommt im 20. Regierungsjahr von Artaxerxes Besuch von seinem Bruder Hanani und anderen Männern aus Juda. Nachdem Nehemia sich über die Zurückgekehrten und Jerusalem erkundigt hat, berichten sie von der erlebten Not der Menschen und den Trümmern der Stadt. Nehemia ist sehr ergriffen und betet darüber. Auch, dass er beim Vorsprechen auf ein offenes Ohr des Königs trifft, er ist nämlich sein Mundschenk.

Als Nehemia vier Monate später dem König Artaxerxes den Wein einschenkt, fragt dieser ihn, warum er so traurig sei. Nehemia berichtet ihm von seiner Trauer über Jerusalem und bittet Artaxerxes darum, in diese Stadt reisen zu dürfen für einen Wiederaufbau. Der König gewährt ihm den Wunsch und schickt ihn mit Briefen für die Provinzstatthalter und einer Leibgarde los. Nach seiner Ankunft erkundet Nehemia die Trümmer und führt Gespräche mit den führenden Männern, um sie für einen Wiederaufbau zu ermutigen. Sie entschließen sich mit der Arbeit zu beginnen, doch werden sie von Sanballat und Tobija verspottet.

In Kap. 3 findet sich ein Verzeichnis der Bauleute. Das Werk des Wideraufbaus schreitet gut voran, viele Menschen sind beteiligt, doch verspottet Sanballat erneut die Juden.

Verärgert über den guten Verlauf des Wiederaufbaus planen die Feinde einen Angriff. Nehemia erfährt von den Vorhaben und stellt wehrfähige Männer auf, um einen Angriff abzuwehren. Bewaffnet arbeiten die Israeliten weiter und Nehemia setzt Wachposten ein, die im Notfall Alarm geben.

Einige Arme unter den Juden sind gezwungen, ihre Felder und Weingräten an reichere Volksgenossen zu verpfänden und Abgaben zu bezahlen. Nachdem Nehemia davon erfährt, weist er die Reichen dafür zurecht und lässt sie mit einem Eid schwören, die Felder und Menschen loszugeben. Nehemia selbst handelt aber vorbildhaft: Auch wenn ihm Abgaben zustehen, verzichtet er darauf und beweist stets Gastfreundschaft.

Die Feinde planen einen Anschlag gegen Nehemia und fordern ihn mit mehreren Briefen zu einer Zusammenkunft auf. Nehemia ist sich aber des Hinterhalts bewusst und sendet stets Boten. Sanballat wirft ihm schließlich vor, dass er einen Aufstand plane und sich als König der Juden darstellen will. Nehemia verneint diese Anschuldigung, doch verbünden sich die Feinde mit Leuten aus dem Volk, um Nehemia einzuschüchtern und zu verführen. Sie reden von den guten Taten Tobijas und übermitteln die Reden des Nehemia. Er aber bleibt standhaft und die Mauer wird in 52 Tagen fertig errichtet, sodass die Feinde sich fürchten.

Nehemia 7–13

Die Torflügel werden eingesetzt, Torwächter beauftragt und Leviten in den Dienst gestellt. Zu Befehlshabern in Jerusalem ernennt Nehemia seinen Bruder Hanani und Hananja. Gott gibt Nehemia in den Sinn, ein Verzeichnis der Sippen anzulegen. Jerusalem ist zu dieser Zeit nur spärlich bewohnt, es werden 42.360 Personen zuzüglich der Diener gezählt. Auch die materiellen Opfergaben werden dokumentiert.

Im siebten Monat versammelt sich das Volk und der Schriftgelehrte Esra verliest das Gesetz. Die Leviten legen dieses Gesetz zusätzlich aus, damit auch jeder die Inhalte versteht. Die Menschen brechen in Trauer aus, als sie hören, was im Gesetz steht, doch Nehemia, Esra, die Schriftgelehrten und die Leviten ermutigen die Menschen sich zu freuen, da der Tag dem Herrn heilig ist und die Freude am Herrn ihre Stärke. Auch das Laubhüttenfest wird gefeiert, in einer Art und Weise, wie es seit Josua nicht mehr geschehen war.

Das Volk kommt zu einem Fastentag zusammen und bekennt seine Schuld. Sie hatten sich von allen Personen abgewendet, deren Abstammung nicht aus dem Volk Israel war. Erneut wird das Gesetz verlesen und die Israeliten beten an. Die Leviten legen ein demütiges Bekenntnis ab, indem sie an die Geschichte Israels seit der Erwählung erinnern und Gottes Treue und Güte gegenüber seinem Volk betonen.

Nach dem Bekenntnis der Schuld wird ein schriftlicher Bund geschlossen. Zuerst werden die Fürsten, Leviten und Priester aufgerufen, diesen Bund zu unterzeichnen, danach bekommt auch das Volk die Möglichkeit, sich dieser Verpflichtung anzuschließen. Mit diesem Bund, der mit einem Eid geschworen wird, stellen sie sich erneut unter das Gesetz, auch wird die Versorgung der Priester und Leviten wieder eingeführt.

Die führenden Männer haben sich in Jerusalem niedergelassen, aus dem übrigen Volk soll jede zehnte Familie in Jerusalem wohnen, weswegen das Los geworfen wird. Alle diejenigen, die freiwillig dorthin ziehen, werden geehrt. Es folgt eine Liste der Sippenoberhäupter von Jerusalem und Juda.

Bei der Einweihung der Mauer herrscht große Freude, es wird ein Fest gefeiert, bei dem Loblieder gesungen werden. Alle Leviten sind anwesend, sie und die Priester reinigen nicht nur sich, sondern auch das Volk, die Stadttore und die Mauer werden besprengt. Auch der Dienst im Tempel wird gewissenhaft versehen und die Versorgung des Tempels geregelt. Alle Reinigungsvorschriften werden eingehalten, der Gottesdienst wird regelmäßig gefeiert und die Abgaben des Volkes nach Vorschrift getätigt.

Nach weiterem Studieren im Gesetz erkennen die Israeliten das Gebot, keine Ammoniter und Moabiter aufzunehmen, weshalb sie diese aus dem Volk ausschließen. Nachdem Nehemia sich zwölf Jahre in Jerusalem aufgehalten hat, kehrt er an den Königshof zurück. Nach einer gewissen Zeit wird ihm eine Reise nach Jerusalem gewährt, doch dort angekommen sieht er die Missstände. Der Hohepriester Eljaschib hatte sich mit dem Ammoniter Tobija verbunden, obwohl dies verboten ist. Er hat ihm sogar eine Zelle im Tempel eingerichtet, sodass Nehemia alle Gegenstände entfernen und die Zelle weihen lässt. Auch wurde der Tempeldienst vernachlässigt, indem der Zehnte zurückgehalten wurde, so dass die Leviten auf den Feldern arbeiten mussten. Nehemia führt die Abgabe des Zehnten wieder neu ein. Der Sabbat ist entweiht worden, indem an diesem Tag gearbeitet und verkauft wurde. Nehemia sorgt dafür, dass die Tore der Stadt am Sabbat geschlossen bleiben. Das Volk hat sich darüber hinaus wieder auf Mischehen eingelassen, sodass Nehemia die Täter verflucht, ihnen aufs Härteste widersteht und sie züchtigt.

(Inhaltsangabe von Jan Silas Siebdraht)

Aufbau und Botschaft

Um die Bedeutung der Restauration zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass die Zerstörung Jerusalems und des Tempels 587/6 v. Chr., das Ende des davidischen Königtums und das Exil des Volkes in Babylon wohl die einschneidensten Ereignisse in der gesamten Geschichte des alten Israel waren. Damit dieser starke Bruch nicht zum völligen Identitätsverlust führte, musste nach dem Ende des Exils nicht nur faktisch, sondern auch theologisch eine sehr bewusste Aufbauarbeit geleistet werden. Ein Dokument dieser Aufbauarbeit ist das Buch Esra-Nehemiah.

Die ersten drei Teile des Buches (Esra 1–6, Esra 7–10, Nehemia 1–6) beschreiben die Restauration von Tempel, Volk und Stadt in drei großen historisch-thematischen Einheiten. Die Einheiten sind nach einem analogen Muster aufgebaut:

Gott fügt jeweils, dass eine Gruppe jüdischer Heimkehrer (bzw. im Fall Nehemias ein einzelner Jude) unter persischer Autorisation nach Jerusalem reist und dort ein Restaurationsprojekt in Angriff nimmt. Äußere und innere Widerstände müssen überwunden werden, bevor das Projekt erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann.

Das neue nachexilische Judentum erhält seine Legitimation und Identität dadurch, dass es an das vorexilische Israel anknüpft:

  • Nach Esra 1,1 ist nicht nur das Exil, sondern auch die Wiederherstellung in der prophetischen Botschaft vorgegeben. Ein und derselbe Herr hat beides bewirkt.
  • Die Heimkehr aus Babylon wird als ein „zweiter Exodus“ beschrieben (vgl. Esr 1,6 mit Ex 3,21f).
  • Die Tempelgeräte sind noch aus der vorexilischen Zeit erhalten (Esr 1,7–11).
  • Mit der Wiedereinführung der täglichen Morgen- und Abendbrandopfer beginnt das „kultische Herz“ Israels wieder zu schlagen.
  • Die Volksgruppen in Israels Nachbarschaft (durch Deportationen entstandene Mischbevölkerung; später „Samaritaner“) gefährden dagegen die erneuerte Identität des Gottesvolkes; daher die scharfe Abgrenzung.
Zu Esra 1–6, Erste Heimkehr und Wiederaufbau des Tempels

Was die Opposition der umgebenden Volksgruppen gegen den Tempelbau betrifft, liegt eine historische Unklarheit vor: Nach Ezra 4,4–5 erstreckte sich die Opposition von der Zeit des Kyrus bis zum Beginn der Herrschaft des Darius, d. h. bis 522 v. Chr. Damit übereinstimmend informieren 4,24 und 6,15 darüber, dass der Tempel zwischen dem zweiten und sechsten Jahr des Königs Darius errichtet wurde, d. h. zwischen 520 und 516 v. Chr. Der Brief allerdings, den die Gegner der Juden verfassen und der in 4,7–16 wiedergegeben ist, richtet sich an Artaxerxes, einen König, der ein halbes Jahrhundert später regierte (464–424 v. Chr.). Tatsächlich bezieht sich der Brief auch nicht auf den Aufbau des Tempels, sondern der Stadtmauer. Sowohl von der Datierung als auch vom Inhalt her gehört der Brief also offensichtlich in die Zeit des Nehemia.

Dies ist jedoch nicht als ein historischer Fehler zu werten. Der Schreiber wusste, dass Artaxerxes nach Darius regierte (vgl. 6,14). Überdies muss ihm aufgefallen sein, dass der Brief vom Bau der Stadtmauer handelt, nicht von dem des Tempels. Der Grund für die chronologische Umstellung ist vielmehr ein literarischer: Der Autor führt das Thema der Opposition in 4,4–5 zunächst summarisch und korrekt datiert ein. Anschließend gibt er den Brief aus der späteren Zeit als Beispiel wieder, um dem Leser die Situation zu illustrieren und um dem Thema der Opposition, das in allen drei Restaurationszyklen vorkommt, an dieser Stelle entsprechend Raum zu geben. In 4,24 kehrt er dann wieder zum ursprünglichen historischen Horizont zurück.

Auch bei der Fertigstellung des Tempels wird allerdings in einer etwas verwirrenden Zusammenstellung Artaxerxes noch einmal aufgeführt, wobei der Schreiber gleichzeitig klarmacht, dass die eigentliche Fertigstellung vor Artaxerxes erfolgte (6,14–15). Artaxerxes spielt aber gleichwohl eine Rolle im Zusammenhang mit dem späteren Tempelbetrieb, da er es war, der Esra mit Finanzen für den Tempelbetrieb ausstattete.

An Stellen wie dieser wird sichtbar, dass für den Autor von Esra-Nehemia die thematischen Zusammenhänge teilweise Vorrang vor der chronologischen Ordnung haben.

Zu Esra 7–10, Zweite Heimkehr unter Esra; Wiederherstellung der Volksidentität

Esra wird als Priester und Schriftgelehrter eingeführt. Er reist mit einem doppelten Auftrag: Zum einen soll er unter der Bevölkerung das Gesetz des Mose in Kraft setzen (7,14, 25–26), zum anderen soll er für einen ordnungsgemäßen Kultbetrieb am Tempel sorgen (7,15–24).

Es war Teil der persischen Politik, den unterworfenen Völkern den eigenen Tempelkult und eigene Gesetzgebung zuzugestehen. Dies ist auch außerbiblisch belegt, so wurde beispielsweise ein gewisser Udjahorresnet um 520 v. Chr. von Cambyses mit einem der Mission Esras ganz ähnlichen Auftrag nach Ägypten gesandt. Dieses Vorgehen war seitens der Perser sicher davon motiviert, um politische Stabilität bei den unterworfenen Völkern zu erreichen.

Das Verzeichnis der mit Esra zurückgekehrten Personen wird angeführt von zwei Priesternachfahren und einem Königsnachfahren, dem zwölf Familien folgen. Der Zug repräsentiert Israel im Kleinen, mit Priesterschaft, Königtum und zwölf Stämmen.

Die erste Aufgabe, die Esra übernimmt, ist die Trennung von Mischehen. Aspekte zum Verständnis:

  • Esra hat den Auftrag, die religiöse Identität Israels wiederherzustellen. Nach der Tora soll Israel Zeugnis für die Nichtjuden sein. Mischehen bedeuten dagegen Religionsvermischung. Dies war umso problematischer, als auch die weltliche und geistliche Führung betroffen war.
  • Neben der geistlichen Identität ist durch die Mischehen auch die politische Identität gefährdet.
  • Die Trennung der Mischehen wird dem Volk nicht von Esra auferlegt, sondern die Initiative kommt vom Volk selbst.
  • Zumindest einige der Männer hatten möglicherweise ihre jüdischen Frauen verstoßen, bevor sie Frauen aus anderen Bevölkerungsteilen nahmen (Mal 2,10–16).

Mit der Trennung von Mischehen ist nur ein einzelner Aspekt der Mission Esras realisiert. Seine Aufgabe, das Gesetz des Mose generell in Kraft zu setzen und für den Tempelbetrieb zu sorgen, wird literarisch für den krönenden Abschluss in Neh 7–12 aufgehoben.

Die Restauration von Tempel, Volk und Stadt, die bis Neh 6 in drei einzelnen Abschnitten behandelt wurde, wird in Nehemiah 7–13 in eine historisch-thematische Gesamtschau vereint. Dadurch wird deutlich gemacht, dass die verschiedenen historischen Einzelereignisse, die zum Teil mehr als ein Jahrhundert auseinanderliegen, theologisch gesehen eine Einheit bilden, nämlich die Erfüllung des heilsgeschichtlichen Plans zur Wiederherstellung Israels. In diesem Sinne ist z. B. auch die Wiederholung der Heimkehrerliste aus Esra 2 in Nehemiah 7 zu deuten: Die Gemeinschaft zur Zeit des Mauerbaus wird so mit der Gemeinschaft der ersten Heimkehrer identifiziert.

Der Abschnitt Nehemia 7–13 kann, was die historische Abfolge der Ereignisse betrifft, nur verstanden werden, wenn die Ringstruktur berücksichtigt wird, nach der der Autor das Material angeordnet hat.

Äußerer Ring – 7,1–3 und 12,27–43: Mission Nehemias, die Stadt betreffend

à Nachdem die Stadtmauer vollendet ist, werden die Tore eingehängt und die Torhüter werden eingesetzt. Anschließend wird die Stadtmauer mit einem großen Fest eingeweiht, bei dem unter anderem zwei Dankeschöre rund um die neu errichtete Stadtmauer ziehen.

Historisch hat sich die Einweihungsfeier der Stadtmauer wahrscheinlich sehr direkt an die Fertigstellung angeschlossen. Literarisch wird die Einweihung jedoch zurückgestellt. Diese redaktionelle Gestaltung wird auch daran sichtbar, dass die Berichte von Nehemia in der Ich-Form in 7,5 enden und erst in 12,31 wieder einsetzen. Dazwischen wird von Nehemia in der dritten Person gesprochen: 8,9, 10,2, 12,26. Der Grund für dieses Arrangement der Quellen liegt sicher in der Aussage, die damit gemacht werden soll: Die Stadt ist nichts ohne das Volk, das in ihr wohnt.

Zweiter Ring – 7,4–72a und 11,1–12,26: Maßnahmen betreffend die Bevölkerung der Stadt.

Auch hier liegt offensichtlich eine Zweiteilung des historischen Quellenmaterials vor: Zwar wird schon in 7,4 angesprochen, dass Jerusalem nur sehr spärlich bewohnt ist und über weite Strecken noch wüst daliegt. Die Aussage bleibt jedoch zunächst für sich stehen. Erst in 11,1f knüpft der Bericht mit einer entsprechenden Maßnahme daran an. So gilt: Die Stadt ist nichts ohne das Volk, das in ihr wohnt. Das Volk aber ist nichts, wenn nicht Gott in ihm wohnt.

Kernabschnitt – 7,72b–10,40: Neuverpflichtung auf das Gesetz des Mose

Der Abschnitt ist in drei parallelen Szenen aufgebaut:

Gesetzeslesung

Zeit

Versammlung

Lesung

Anwendung

Reaktion

Neh 7,72b–8,12

7,72b

8,1–2

8,3–6

8,7–11

8,12

Neh 8,13–18

8,13a

8,13b

8,13c

8,14–15

8,16–18

Neh 9,1–10,40

9,1a

9,1b–2

9,3

9,4–37

10,1–40

Die Szenen kulminieren jeweils in der Reaktion des Volkes, d. h. konkret

  • im Feiern eines Freudenfestes,
  • im Feiern des Laubhüttenfestes und
  • – durch die Länge betont – in der Buße des Volkes und der Neuverpflichtung auf das Gesetz.

Die letztgenannte Verpflichtung enthält zum größten Teil Regelungen, die mit der Aufrechterhaltung des Tempelbetriebes zu tun haben (30,33–40). Der Bericht von der Inkraftsetzung des mosaischen Gesetzes steht an der strukturell wichtigsten Position im Buch. Damit wird ausgesagt, dass das Gesetz für die nachexilische Gemeinschaft die wesentliche Grundlage bildet bzw. bilden soll.

Nachdem 12,27–43 die Restauration der Stadt abschließt, werden in 12,44–47 die Restauration des Tempels und in 13,1–3 die Restauration des Volkes abgeschlossen. Damit ist die Restauration Israels in allen drei Bereichen abgeschlossen und in Kraft.

Die Coda in 13,4–39 gibt dem Buch abschließend eine anti-heroische Note (Chapman). Nachdem speziell Neh 7–12 den Eindruck eines erfolgreichen Abschlusses der Restauration erweckt, zeigt Kapitel 13 zu jedem der drei Bereiche Tempel, Stadt und Volk noch einmal ein Problem: In 13,4–14 beseitigt Nehemiah Missstände im Tempel; in 15–22 kommt die Stadtmauer zum Schutz des Sabbats zum Einsatz; in 23–31 wird noch einmal das Problem der Vermischung des Volkes durch Mischehen angesprochen.

Auf diese Weise macht der Buchschluss darauf aufmerksam, dass der Status der Gemeinschaft fortgesetzt bedroht ist und dass seine Aufrechterhaltung stetiger, täglicher Bemühung bedarf.

Zusammenfassung der Botschaft

Gott fügt, dass unter persischer Autorisation Tempel, Volk und Stadt wiederhergestellt werden können. Die historischen Einzelereignisse sind Teil des umfassenden heilsgeschichtlichen Planes Gottes. Für die nachexilische Gemeinschaft soll das Gesetz die wesentliche Grundlage bilden. Der Erhalt der Gemeinschaft bedarf ständiger Bemühungen.

bible-zoom.de ist die Webseite von Julius Steinberg, Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Ewersbach