Das Hohelied Salomos
Thema: Die Liebe zwischen Mann und Frau genießen und gestalten
Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hirschkühen des Feldes: Weckt nicht, stört nicht auf die Liebe, bevor es ihr selber gefällt!
Hoheslied 2,7 Tweet
Eine zusammenfassende Nacherzählung. Parallel werden der deutsche und der hebräische Text des Liedes eingeblendet.
Autorschaft und Datierung
Traditionell wird von jüdischer wie von christlicher Seite das Hohelied König Salomo zugerechnet (Regierungszeit 971–931 v. Chr.). Die entsprechende Angabe in Hld 1,1 „le-Schelomoh“ kann allerdings auch in einem weiteren Sinne „Salomo zugeordnet“ bedeuten. Innerhalb des Liedes wird von Salomo in der dritten Person gesprochen, teilweise auch in negativ-abgrenzender Weise (8,11f).
Was die Datierung betrifft, so reichen die Vorschläge von der Zeit Salomos über die späte Königszeit bis in die persische oder hellenistische Zeit.[1] Direkte textliche Hinweise gibt es nicht; die sprachliche Eigenheit des Liedes lässt verschiedene Schlüsse zu. G. Gerlemann meint: „Ist … eine Spätdatierung des Hohenliedes wegen sprachlicher Gründe nicht zwingend, scheinen inhaltliche und literarische Indizien sehr bestimmt auf eine frühe Ansetzung zu weisen … Es mag in der Tat schwer sein, eine Periode der Geschichte Israels zu finden, die für die Entstehung einer erotischen Dichtung hätte förderlicher sein können als die des salomonischen Humanismus.“[2]
[1] Schwienhorst-Schönberger (in Zenger u. a., Einleitung 92016, 482–483) stellt die Argumente für die drei möglichen Entstehungsepochen (frühe Königszeit, mittlere Königszeit, hellenistische Königszeit) aufgrund der literarischen Bezüge, Motive und der Fremdwörter dar. Dillard / Longman (Introduction, 297–298) sehen das Hohelied als Liedersammlung an, von denen ein Teil auf Salomo zurückzuführen sei. Childs (Introduction, 573–578) sieht den Verweis auf Salomo als Hinweis, dass es sich um Weisheitsliteratur handelt, und argumentiert gegen eine salomonische Verfasserschaft. Zakovitch (Das Hohelied HThKAT, 66–67) spricht sich für eine endgültige literarische Fixierung in der hellenistischen Epoche aus, wobei sie das Hohelied als Sammlung von verschiedenen Liedern mit langer mündlicher Überlieferung und Ursprüngen in der profanen Volksdichtung ansieht. Garrett (Song of Songs WBC, 18–25) spricht sich mit Argumenten zum Inhalt und zur literarischen Verwandtschaft mit altägyptischen Liebesliedern für eine Entstehung zur Zeit Salomos aus. (Fußnote erstellt von Jens Winarske.)
[2] Gillis Gerlemann, Ruth. Das Hohelied, BKAT 18 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1965).
Auf dieser Seite
Ein Überblick über die unterschiedlichen Ansätze zur Interpretation des Hohenliedes.
Zugänge zum Hohenlied
- Das Hohelied als Allegorie auf die Liebe zwischen Gott und seinem Volk Israel (bzw. Gott und der Kirche, zwischen Maria und Jesus Christus, zwischen dem Einzelnen und Gott) – vor allem mittelalterliche Auslegungen gemäß dem vierfachen Schriftsinn, auch auf dem Hintergrund einer problematischen Stellung der Sexualität im christlichen Gedankengebäude. – Abgeschwächte Variante: typologische Auslegung.
- „Allegorie“: Der Text ist nicht wörtlich gemeint, die eigentliche Bedeutung liegt auf einer symbolischen Ebene (z. B. Arche = Gemeinde, Noah = Christus, Taube = Heiliger Geist usw.).
- Typologie: Der Text ist wörtlich gemeint, aber es gibt eine zusätzliche Bedeutungsebene.
- Das Hohelied als „Götterhochzeit“, d. h. kultisches Ritual bzw. Drama – basierend auf historisch-kritischen Zugängen entwickelt (diachrone, kritisch-religionsgeschichtliche Ansätze); diese Ansicht kann allerdings nicht für das Hohelied in seiner jetzigen Form vertreten werden, sondern für rekonstruierte Vorstufen bzw. Quellen.
- Natürliche Auslegung – von alter Zeit bis heute vertreten, sowohl im jüdischen als auch im christlichen Bereich. Am meisten textgemäß.
Das Hohelied als Weisheitsbuch
Das Hohelied findet seinen Platz in der Bibel am besten in der Gruppe der Weisheitsbücher (Steinberg):[1]
- Die Weisen beobachten Zusammenhänge des menschlichen Miteinanders und leiten daraufhin zu einem gelingenden Leben an. In ihren Aufgabenbereich fällt deshalb nicht zuletzt die Beziehung zwischen Mann und Frau – schließlich ist die Liebe eine grundlegende Macht im menschlichen Leben (vgl. Spr 30,19; Spr 5,15–20; Spr 7; vgl. Hld 8,6b–7).
- Das Hohelied nähert sich seinem Thema „empirisch“ an. Es gibt über weite Strecken Beobachtungen wieder, die für sich selbst sprechen – wie auch das Sprüchebuch. Weisheitlich-reflektierende Momente finden sich u. a. im wiederholten „Mottosatz“ (2,7; 3,5; 8,4).
- Der abschließende Höhepunkt des Liedes ist besetzt durch eine von Form und Inhalt typisch weisheitliche Aussage (Hld 8,6b–7). An dieser Stelle meldet sich der Weisheitslehrer gewissermaßen selbst zu Wort.
- Der Titel „von Salomo“ ordnet das Lied der Weisheit zu.[2]
Die Liedform lässt sich damit erklären, dass die Weisen die dem jeweiligen Inhalt entsprechende Form wählten – und wie lässt sich über die Liebe schöner reden als in einem Liebeslied?
Die weisheitliche Interpretation des Hohenliedes spricht gleichzeitig für die „natürliche“ Auslegung und gegen allegorische Ansätze.
[1] Julius Steinberg, »Kanonische ›Lesarten‹ des Hohenliedes«, in: Thomas Hieke, Hrsg., Formen des Kanons: Studien zu Ausprägungen des biblischen Kanons von der Antike bis zum 19. Jh., Stuttgarter Bibelstudien 228 (Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2013), 164–183.
[2] Brevard S. Childs, Introduction to the Old Testament as Scripture (Philadelphia: Fortress, 1979), 573–575.
Die Bildsprache des Hohenliedes
Viele der Bilder und Vergleiche des Hohenliedes muten für heutige Ohren befremdlich an. Bei der Auslegung sind nach O. Keel[1] die folgenden beiden Aspekte zu beachten:
- Vergleiche beziehen sich nicht auf das Aussehen allein, sondern auf innewohnende Fähigkeiten. Beispiel: Das lockige schwarze Haar der Geliebten sieht nicht aus wie eine Herde Ziegen, sondern es zeigt dieselbe brodelnde Vitalität (Hld 4,1).
- Vergleiche mit Pflanzen und Tieren beziehen sich oft nicht auf die Natur dieser Lebewesen an sich, sondern auf deren kulturelle symbolische Bedeutung. Beispiel: Die Taube war ein im Alten Vorderen Orient weit verbreitetes kulturelles Symbol für die Liebeswilligkeit. Die Aussage „Deine Augen sind Tauben“ (Hld 1,15) ist daher zu übersetzen mit „Deine Augen sind voller Liebe für mich.“ / „Du blickst mich liebevoll an.“
[1] Othmar Keel, Das Hohelied, Zürcher Bibelkommentare, AT 18 (Zürich: Theologischer Verlag, 1986).
Zugänge zur Struktur des Hohenliedes
- Das Hohelied als „Drama“, z. B. Dreiecksbeziehung zwischen Salomo, dem Hirtenmädchen und ihrem Liebhaber – vor allem ältere Ansätze, heute kaum noch vertreten. Das Lied enthält zwar narrative Elemente, insgesamt ist eine geschlossene Handlung aber nicht zu erkennen.
- Das Hohelied als Sammlung einzelner Liebeslieder (vor allem Vertreter der literarkritischen Schule). Schwer zu erklären sind dabei allerdings die vielen auch regelhaft erscheinenden Wiederholungen von Motiven und Phrasen durch den ganzen Text hindurch. Sie sprechen eher für einen Gesamtentwurf.
- Das Hohelied als in sich geschlossene poetische Komposition (zunehmend, Vertreter neuerer literaturwissenschaftliche Ansätze). Problematisch: kein Konsens bezüglich der Art der Struktur.
Die „emotionale Struktur“ des Hohenliedes nach Steinberg
Nach dieser Ansicht liegt dem Hohenlied eine „emotionale“ Struktur zugrunde, d. h. der Zusammenhang der Lieder besteht nicht in einem narrativen Voranschreiten, sondern in der Abfolge der Gefühle, die dabei zum Ausdruck kommen, und zwar nach dem folgenden Muster:
A Sie verlangt nach ihm.
B Sie sieht ihn kommen; sie preist seine Vorzüge.
C Er preist ihre Schönheit und verlangt nach ihr.
D Sie gibt sich ihm hin / sie lädt ihn ein.
Von 2,5 an wird diese Sequenz insgesamt viermal durchlaufen (2,5–17; 3,1–5,1; 5,2–7,12; 7,13–8,14). Der einleitende Abschnitt 1,2–2,4 weicht in verschiedener Hinsicht ab, fügt sich aber dennoch grob in dasselbe Schema. So kann insgesamt von fünf „Zyklen des Verlangens“ gesprochen werden.
Die Struktur bildet das Rückgrat des Liedes, sie bindet verschiedene Lieder, Bilder und narrative Elemente zusammen, die gewissermaßen über der Struktur schweben und dem ganzen Lied einen traumartigen, teilweise rauschhaften Charakter verleihen.
Aus dieser Interpretation folgt auch, dass im Lied nur eine einzige männliche und eine einzige weibliche Hauptperson vorkommen. König (1,4) und Hirte (1,7) sind nicht unterschiedliche Figuren der Handlung, sondern lediglich Rollen, in welche die Geliebten schlüpfen. Auch die Bezugnahmen auf Salomo fungieren lediglich als Bilder, um entsprechende Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Ob eine der tatsächlichen Hochzeiten Salomos dafür Pate stand, ist für die Interpretation nicht von Bedeutung. – Auch heute noch ist es in manchen syrischen Traditionen üblich, dass Hochzeitspaare als König und Königin verkleidet erscheinen.
Der literarische Aufbau des Hohenliedes nach Julius Steinberg. Mit Animationen erklärt.
Die Botschaft des Hohenliedes
- ein Lied auf die Liebe: Das Hld feiert das Verlangen in der geschlechtlichen Liebe; Hochzeitsfeier als möglicher Sitz im Leben.
- ein Lied über die Liebe: Das Hld beobachtet Aspekte der menschlichen Liebe wie körperliche Schönheit und Anziehungskraft, Verlangen, die Macht der Liebe usw.
- ein Lied darüber, wann die rechte Zeit für die Liebe ist:
- Der Mottosatz des Hld lautet „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems: Weckt nicht auf, stört nicht auf die Liebe, bis es ihr selber gefällt“ (2,7; 3,5; 8,4). Das Hld lädt ein, die Gesetzmäßigkeiten der Liebe zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten.
- In den beiden Träumen 3,1–5 und 5,2–7 werden der Wunsch nach Ehelichung (das ist mit dem Führen ins Haus der Mutter gemeint) und ein gefährliches Verlangen einander gegenübergestellt. Die Wächter stehen jeweils für die moralische Ordnung der Gesellschaft.
- Die zweigeteilte Geschichte von der Hüterin der Weinberge in 1,5f und 8,8–12 behandelt das Thema des Erwachsenwerdens.