Die Klagelieder
Thema: Jerusalem am Boden
Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
Klagelieder 3,22f (Lut84)
Platz im Kanon
In der griechischen und lateinischen Tradition stehen die Klg hinter dem Jeremiabuch, zusammen mit anderen Texten, die Jeremia bzw. seinem Schreiber Baruch zugeschrieben wurden. In der späteren jüdischen Tradition ist das Büchlein zusammen mit Ruth, Est, Pred und Hld zu den fünf Megillot gruppiert. Dies gilt allerdings nicht für die frühere jüdische Tradition. In der Anordnung nach dem Talmud lässt sich das Buch als Beginn einer Reihe Klg – Dan – Est – EsrNeh verstehen (Steinberg).
Autorschaft und Datierung
Eine schon in vorchristliche Zeit zurückreichende Tradition nennt Jeremia als Verfasser der Klagelieder. Dies ist möglich, aber nicht weiter belegbar. Das Büchlein betrauert den Fall Jerusalems 586 v. Chr. und gibt eine theologische Deutung. Es ist sicher in engem Zusammenhang mit der Katastrophe entstanden.[1]
[1] Frevel und Meyer (in Zenger u. a., Einleitung 92016, 586–589) gehen von fünf Liedern mit je für sich verschiedenen Verfassern aus, die erst im 4. Jh. v. Chr. komplett zusammengestellt worden seien. Das erste und zweite Lied datieren sie zwischen der Zerstörung Jerusalems und dem Wiederaufbau des Tempels, das vierte Lied datieren sie in die 1. Hälfte des 5. Jh.s v. Chr., das dritte und fünfte Lied datieren sie nicht genauer. Dillard / Longman (Introduction, 343–344) sehen die Annahme von verschiedenen Autoren als „unnecessary hypothesis“ und stellen ansonsten nur die Forschung kurz dar. Childs (Introduction, 594) betont die thematischen Zusammenhänge des Buches und spricht sich gegen eine erkennbare Gedankenentwicklung sowie für den Einfluss von Israels liturgischem Gottesdienst auf das Buch aus. Berges (Klagelieder HThKAT, 35.72) geht von einer Kompilation verschiedener Lieder aus verschiedenen theologischen Strömungen aus, die vor der spätpersischen und hellenistischen Zeit entstanden seien. House (Lamentations, 301–302) geht von einem Autor oder einer Gruppe ähnlich denkender Autoren und einer erkennbaren Gedankenentwicklung in den Liedern aus (Fußnote erstellt von Jens Winarske).
Aufbau und Inhalt
Jedes der fünf Kapitel bildet ein Klagelied. Bei Kap. 1–4 handelt es sich jeweils um ein „alphabetisches Akrostichon“, d. h. der erste Vers beginnt mit dem Buchstaben Aleph, der zweite Vers mit dem Buchstaben Beth usw. Das fünfte Lied ist lediglich „alphabetisierend“, d. h. es besteht aus 22 Versen, ohne dass jedoch die Anfangsbuchstaben festgelegt sind.
Kap. | Aufbaumerkmale | Beginn mit | ||
1 | alphabetisches Akrostichon |
| 3 Zeilen je Buchstabe | Wehe |
2 | alphabetisches Akrostichon | ajin und pe | 3 Zeilen je Buchstabe | Wehe |
3 | alphabetisches Akrostichon | ajin und pe | 3 Zeilen je Buchstabe; jede Zeile beginnt akrostisch | Ich bin der Mann |
4 | alphabetisches Akrostichon | ajin und pe | 2 Zeilen je Buchstabe | Wehe |
5 | alphabetisierend (22 Zeilen) |
|
| Gedenke, HERR |
Den unterschiedlichen Aufbaumerkmalen entsprechen auch inhaltliche Eigenarten der jeweiligen Lieder:
Das erste, zweite und vierte Lied beklagen in eindrücklichen Bildern die Zerstörung Jerusalems (Beginn mit Wehe). Klage, Beschreibung und theologische Deutung des Unheils lösen einander in teilweise raschem Wechsel ab. Die Form des alphabetischen Akrostichons impliziert wahrscheinlich die Vollständigkeit des Dargestellten (»von A bis Z«). In den Klg kann das auf die vollständige Zerstörung und Verwerfung, auf die Summe allen Leides, bezogen werden.
Akrostichon – Beim „Alphabetgedicht“ oder alphabetischen Akrostichon folgen die Anfangsbuchstaben der einzelnen Zeilen oder Verse dem Alphabet. Das Alte Testament enthält zwölf vollständige (Ps 25, 34, 37, 111, 112, 119, 145; Spr 31,10–31; Klg 1, 2, 3 und 4) und zwei fragmentarische Alphabetgedichte (Ps 9f; Nah 1,2–8).
Die Form wirkt auf heutige Leser verspielt und passt nach unserem Empfinden nicht zu den ernsten und feierlichen Inhalten. In der Vergangenheit wurde sie von manchen als „Künstelei“ verspottet. Andere vermuten, dass die alphabetische Form als Lernhilfe gemeint war. Aber würde man z. B. für den Schulunterricht ausgerechnet Klagelieder dichten?
Mit der alphabetischen Form ist vielmehr eine inhaltliche Absicht verbunden. Das Alphabet drückt aus, dass hier etwas „von A bis Z“ behandelt wird. Obwohl die entsprechenden Gedichte oft den Charakter einer Aufzählung haben, vermittelt das unterliegende Alphabet: Die aufgezählten Beispiele sollen genügen, um die Sache als Ganzes darzustellen. So preist z. B. Ps 145 Gott umfassend, indem eine Vielzahl seiner Eigenschaften aufgelistet wird; Spr 31 führt an einer Reihe von Beispielen vor Augen, was das Handeln einer „starken Frau“ ausmacht und wie bewundernswert sie ist. Ebenso beschreiben die Klagelieder anhand vieler einzelner Eindrücke die Summe allen Leides im Leben einer Nation.
Speziell bei den Klageliedern lassen sich mit der Form noch weitere Aussagen verbinden: 1. Um das Leid zu verarbeiten, muss es ernst genommen und gedanklich „von A bis Z“ durchschritten werden; erst dann sind Reinigung und Neuanfang möglich. 2. Auch wenn alle Ordnungen zusammengebrochen scheinen: Es gibt immer noch eine unterliegende Ordnung, einen Halt im Verborgenen bei Gott. 3. Wenn die Not „von A bis Z“ stattgefunden hat, ist sie damit auch zu Ende, und es gibt neue Hoffnung (Klg 4,22: „Zu Ende ist deine Schuld, Tochter Zion“).
Erstes, zweites und viertes Lied
Das erste Lied beklagt das Unglück, das mit der Eroberung der Stadt, mit der Verunreinigung des Heiligtums, durch Schwert, Deportation und Hungersnot über Jerusalem gekommen ist. Die Stadt wird als trauernde Witwe beschrieben und als Frau, die in Unehre geraten ist. Das Unglück ist von Jhwh ausgegangen und ist die gerechte Strafe für den Ungehorsam. Das Gedicht endet mit dem Aufruf an Gott, die Feinde ebenfalls ihrer gerechten Strafe nicht entgehen zu lassen.
Das zweite Lied ist in sich konzentrisch aufgebaut, wie schon 1933 Condamin gezeigt hat. Die Aussage: Am Tag seines Zorns hat der HERR die Tochter Zion ohne Mitleid zu Boden gestürzt. Das Entsetzen gipfelt in dem Anblick der auf den Plätzen der Stadt verhungernden Kinder. Unglück und Trauer sind groß.
Im vierten Lied beschreiben V. 1–10 die Hungersnot, die nach der Eroberung über die Stadt hereingebrochen ist. Häufig sind Vergleiche mit Materialien und deren Farben. Die Verse 11–20 handeln dann vom Zorn Gottes. Wegen der Sünde von Priestern und Propheten hat Gott das Volk unrein gemacht und verworfen. Die letzten beiden Verse wenden sich gegen den Spötter Edom.
–> Theologische Implikationen der Kap. 1, 2 und 4: Der Klage vor Gott darf und soll Raum gegeben werden.
Drittes Lied
Das dritte Lied ist formal stark verdichtet: Jeder Buchstabe des Akrostichons erscheint hier gleich dreimal in aufeinanderfolgenden Zeilen. Der formalen Verdichtung entspricht eine theologische Verdichtung: Das Kapitel entfernt sich von der konkreten Situation der Zerstörung Jerusalems; im Auge dieses Sturms von Klagen steht der Einzelne mit seinem Leid vor Gott (»Ich bin der Mann …«).
Nach B. Childs hat das dritte Kapitel die Aufgabe, die konkrete historische Leidsituation in die Sprache des Glaubens zu übersetzen. Das Unfassbare wird so mit einer traditionellen Gebetsform (Klagelied des Einzelnen) fassbar gemacht. Das oft bekannte Vertrauen darauf, dass Gottes Güte nicht zu Ende ist, gilt selbst jetzt, in der Situation der denkbar größten Verwerfung.
Die nachexilische Glaubensgemeinschaft hat die Klagelieder aber sicher auch unter einer anderen Perspektive wahrgenommen, nämlich unter der des erfolgten Neuanfangs. Damit wird eine Übertragung in die umgekehrte Richtung möglich: Die Erfahrung, dass selbst nach dem Untergang der gesamten Nation ein Neuanfang möglich war, lässt darauf hoffen, dass Gott auch in einer individuellen Leidenssituation einen Neuanfang möglich macht. Dies tröstet gerade auch dann, wenn das Licht am Ende des Tunnels – wie in den Klageliedern selbst – noch nicht zu sehen ist.
Wie man sich in der Leidsituation zu verhalten hat, wird in den Versen 22–42 formuliert und begründet: Gottes Güte hört niemals auf, daher kann und soll man geduldig auf ihn hoffen (22–33). Gott bestraft nicht gern, er kann aber die Sünde nicht übersehen. Deshalb soll man nicht bei der Klage stehen bleiben, sondern seinen Lebenswandel prüfen und zu Gott umkehren (31–42).
Fünftes Lied
Das fünfte Lied ist als Gebet ausgeformt (»Gedenke, HERR … «). Der Charakter der Aufzählung von Leid und Klage tritt dabei etwas zurück. Dem entspricht formal, dass die Zeilen des Liedes nicht mehr mit den Buchstaben des Alphabets beginnen; lediglich die Anzahl der Zeilen stimmt mit dem Alphabet überein. Als Gebet bildet das Kapitel den sinnvollen Abschluss des Buches. Das Gebet und damit auch das gesamte Buch enden offen (5,20–22):
Warum willst du uns für immer vergessen,
uns verlassen lebenslang?
Bring uns zurück, HERR, zu dir, dass wir umkehren!
Erneuere unsere Tage, dass sie werden wie früher!
Oder solltest du uns endgültig verworfen haben,
allzu zornig sein über uns?