Der Prophet Hesekiel

Thema: Gericht über Juda; neue Hoffnung: die Herrlichkeit des HERRN
Hesekiel

Bibelkunde-Skript

Propheten Einführung

Bibelkunde-Skript

Platz im Kanon

Hesekiel gehört zu den drei bzw. vier „großen Propheten“ Jesaja, Jeremia, Hesekiel und ggf. Daniel.

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Der Prophet

Hesekiel ( jechäske’l „Gott wird stark / fest machen“), Sohn des Busi, entstammte einer Priesterfamilie. Er wurde 597 v. Chr. zusammen mit der Jerusalemer Oberschicht nach Babylonien verschleppt, elf Jahre vor dem endgültigen Fall Jerusalems (Jer 33,21; 2Kö 24,11–16). Dort lebte er in Tel Abib am Kanal Kebar (nehar kevar, möglicherweise der babylonische nar kabari, „großer Kanal“, zwischen Babylon und Nippur). Er hatte ein eigenes Haus und war verheiratet (der Tod seiner Frau wird in Kap. 24 berichtet).

Im 5. Jahr nach der Wegführung (593 v. Chr.) wird er zum Propheten berufen; die letzte datierte Offenbarung fällt in das 27. Jahr der Wegführung (571 v. Chr.). Demnach dauerte sein Prophetendienst mindestens 23 Jahre.

Eine Besonderheit von Hesekiels Dienst liegt in den dramatischen Visionen, Beschreibungen von Entrückungen, Allegorien und besonders ungewöhnlichen Zeichenhandlungen. Beispiele: Hesekiel isst eine Schriftrolle (Hes 3); er muss 390 Tage lang vor einem Modell Jerusalems auf der Seite liegen (Hes 4); er hat eine Vision von vier Gestalten, vier Rädern und dem Thron Gottes (Hes 1); er reist „im Geist“ zum Jerusalemer Tempel (Hes 8–11); er hat eine Vision von Totengebeinen, die wieder lebendig werden (Hes 37) u. a. Zeitweise wurde in der Literatur eine Geisteskrankheit Hesekiels diskutiert.

Die historische(n) Situation(en) und Hesekiels Botschaft

Erste Phase: Hesekiel befindet sich zusammen mit den übrigen 597 v. Chr. in die Verbannung geführten Juden in Babylonien. Viele seiner Landsleute hoffen auf eine baldige Rückkehr nach Juda. Hesekiel hat demgegenüber die Aufgabe, ihnen die Ernsthaftigkeit ihrer Schuld aufzuzeigen und die nahe bevorstehende völlige Zerstörung Jerusalems anzukündigen (Hes 4–24).

Zweite Phase: Nachdem Jerusalem zerstört ist, kündigt Hesekiel eine durch Gott gewirkte innere und äußere Erneuerung Israels an (Hes 33–48).

Das Leben in Babylonien

Die äußeren Lebensumstände waren für die jüdischen Exulanten durchaus erträglich. Sie bauten Häuser, pflanzten Weingärten, heirateten und bekamen Kinder. Hinweise in babylonischen Texten zeigen, dass Juden aktiv an Handel und Geschäftsleben teilnahmen. Wirtschaftlich erging es ihnen wesentlich besser als den Daheimgebliebenen.

Als man wieder nach Jerusalem zurückkehren konnte, zogen viele es vor, in Babylon zu bleiben. Damit war der Grundstock für ein zweites Zentrum des Judentums gelegt, das sich bis weit in die nachchristliche Zeit erhielt. Der babylonische Talmud, der im 6. Jh. n. Chr. verschriftlicht wurde, ist ein Zeugnis der Gelehrtentätigkeit im babylonischen Judentum.

Zur Zeit des Hesekiel hofften allerdings noch viele auf eine baldige Rückkehr. Auch kamen drängende theologische Fragen auf, wie die Situation von Gott her zu bewerten sei und wie im fremden Land Gott angebetet und ihm gedient werden kann.

Kanonizität

Das Buch Hesekiel gehört zu den sog. „Antilegomena“, d.h. den zeitweise umstrittenen Büchern. Dies liegt vor allem an der Beschreibung der neuen Gottesstadt in Hes 40–48, die den Aussagen des mosaischen Gesetzes in einigen Punkten zu widersprechen scheint. Besonders die jüdischen Ausleger haben mit diesem Problem gerungen. An sich stand die Kanonizität des Buches allerdings nicht in Frage. (Zur Deutung von Hes 40–48 s. u.)

Literarischer Aufbau

  1. Der Aufbau des Buches entspricht grundsätzlich dem sog. „dreigliedrigen eschatologischen Schema“:[1]

Hes 1–24       Gericht über Israel

Hes 25–32     Gericht über die Völker

Hes 33–48     Heil für Israel (und die Völker)

Die Kap. 40–48 beschreiben den neuen Tempel und können wegen ihrer Eigenständigkeit auch als ein vierter Hauptteil abgetrennt werden.

[1]      Karl-Friedrich Pohlmann, Ezechiel: Der Stand der theologischen Diskussion (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008), 13.

  1. Die Hauptteile werden zusätzlich durch rhetorische „Scharnierkapitel“ mit wiederkehrenden übergreifenden Themen voneinander abgegrenzt: am Anfang, in der Mitte und am Ende des ersten Hauptteils (2f; 18; 24) und am Beginn des dritten Hauptteils (33):

Thema

Hes 2f

Hes 18

Hes 24

Hes 33

Hesekiels Wächteramt, seine Verantwortung als Warner

3,16–21

 

 

33,1–9

Die Verantwortung eines jeden Einzelnen; Umkehr ist möglich

 

18,1–32

 

33,10–20

Hesekiels Stummheit

3,26 Ankündigung der Stummheit

 

24,15–27 Stummheit, bis Nachricht vom Fall Jerusalems

33,21–22 Nachricht vom Fall Jerusalems; Ende der Stumm­heit

Die Verstocktheit von Hesekiels Hörern – „sie werden erkennen, dass ein Prophet in ihrer Mitte gewesen ist“

2,5 u.a.

 

 

33,30–33

Die Fremdvölkersprüche sind literarisch in die Zeit der Stummheit platziert, d. h. in die Zeit, während man gebannt darauf wartet, ob / dass die Unheilsprophetie des Hesekiel eintrifft.

 

  1. Die kevôd JHWH „Herrlichkeit des HERRN“
  • In Kap. 1 erscheint Hesekiel die kevôd JHWH am Fluss Kebar.
  • In Kap. 8–11 verlässt die kevôd JHWH den Jerusalemer Tempel: Gott verlässt sein Volk und weiht es somit dem Untergang.
  • In Kap. 43,1–11 kehrt die kevôd JHWH in den neuen Jerusalemer Tempel zurück: Gott wohnt wieder mitten unter seinem Volk (Lev 26,11f).

Fazit: Planmäßiger Gesamtaufbau des Buches; kommunikative Gesamtstrategie deutlich erkennbar, anders als bei Jesaja und Jeremia. Im Kleinen hat das Buch streckenweise aber auch Sammlungscharakter.

Anmerkungen zu den einzelnen Abschnitten des Buches

Hesekiel sieht Gottes Herrlichkeit und wird zum Propheten berufen (Hes 1–3)

Dreieck zwischen dem herrlichen und heiligen Gott, dem halsstarrigen Volk Israel sowie dem Propheten Hesekiel, der Gottes Worte verinnerlichen soll (Essen der Schriftrolle) und der von Gott fest gemacht wird (Anspiel auf Name Hesekiel), um dem Volk gegenüberzutreten.

Gerichtsprophetien gegen Israel, bis zum Untergang Jerusalems (Hes 4–24)

Hesekiel kündigt dem Volk auf drastische Weise das Gericht Gottes an. Er verwendet dafür Zeichenhandlungen, Gleichnisse, allegorische Geschichtsrückblicke, eine Geistreise u. v. a.

Im Zentrum dieses möglicherweise konzentrisch aufgebauten Buchteils (J. Steinberg) befindet sich als theologischer Schlüssel Kap. 18: Jeder Einzelne trägt die Verantwortung für sich; Umkehr ist möglich:

„Ich habe kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss, spricht der Herr, HERR.
So kehrt um, damit ihr lebt!“ (Hesekiel 18,32)

Übersicht über die Inhalte der einzelnen Abschnitte:

A      4–7             Zweiteilige Zeichenhandlung: Belagerung und Untergang Jerusalems

B?    8–11                 Hesekiels Entrückung zum Jerusalemer Tempel:
                                    Darstellung von Israels Gräueltaten; Vision des Gerichts

C       12,1–20                 Zwei Zeichenhandlungen: Verbannung; Gericht über Israels König

?       12,21–14,11              Hesekiels Botschaft im Konflikt

D      14,12–23                    Gericht über alle; Gerechte wie Noah… würden nur sich selbst retten

E       15                                       Gleichnis vom brennenden Weinstock à Gericht über Israel

F       16                                             Geschichtsrückblick: Jerusalem als untreue Frau

G      17                                                   Fabel von Adlern, Zeder & Weinstock: Israels Könige

H      18                                                         Jeder ist für sich selbst verantwortlich
                                                                       – kehrt um, damit ihr lebt!

G’     19                                                   Fabel von Löwen & Weinstock: Israels Könige

F’      20                                             Geschichtsrückblick: Israels Sünde

E’      21,1–5                               Gleichnis von brennenden Bäumen à Gericht über ganz Israel

D’     21,6–10                       Das Schwert kommt über Gerechte und Ungerechte

C’      21,11–22              Zwei Zeichenhandlungen: Vernichtung; Gericht über Israels König

B’?   22                      Auflistung von Gräueltaten aller Bevölkerungsgruppen; Gerichtsankündigung

B’?   23                      Geschichtsrückblick: Die hurerischen Schwestern Ohola und Oholiba

A’     24,1–27     Zweiteilige Zeichenhandlung: Belagerung und Untergang Jerusalems
                              Hesekiels Stummheit aufgehoben, Hesekiel als Wahrzeichen (vgl. Kap. 3,16–27)

Gerichtsprophetien gegen sieben Nationen (Hes 25–32)

Hesekiel beschreibt Israel als ein Volk innerhalb der Völkerwelt, umgeben von anderen Völkern (z. B. Hes 5,5–8). Israels Schicksal und das der anderen Völker sind unauflösbar miteinander verwoben. Die Nationen sind beteiligt an der Sünde Israels und auch am Untergang Jerusalems (als militärische Gegner; als Spötter). Die Situation ist daher erst dann vollständig von Gott her bewertet, wenn die Fremdvölker behandelt sind. Erst nach dem Gericht über die Völker kann die neue Heilszeit Israels beginnen.

Sieben (symbolische Vollzahl) Nationen werden genannt: Ammon, Moab, Edom, Philister, Tyrus, Sidon und Ägypten; dabei werden Tyrus und Ägypten besonders ausführlich behandelt.

Ein Volk, das nicht genannt wird, obwohl es der schrecklichste Gegner Israels war: Babylon.

  • Hesekiel unterstreicht die Rolle Babylons als Werkzeug des gerechten Gerichts Gottes. Das Handeln Babylons braucht deshalb nicht moralisch angezweifelt zu werden. Daher verzichtet Hesekiel auf eine ambivalente Darstellung der Babylonier, wie wir sie von anderen Schriftpropheten kennen.
  • Babylon ist auch das Werkzeug des Gerichts über die genannten Fremdvölker. Es wäre daher unlogisch, würde Babylon in der Liste der Fremdvölker erscheinen.

Inmitten der Fremdvölkersprüche (97 Verse vorher, 97 hinterher) richten sich die drei Verse 28,24–26 an Israel selbst. Sie enthalten einen theologischen Schlüssel zu den Fremdvölkersprüchen: Gott richtet die Völker, damit Israel wieder sicher in seinem Land wohnen kann.

  • 25: Prophetien gegen Judas Nachbarn Ammon, Moab, Edom und die Philister
  • 26–28: Prophetien gegen Phönizien, d. h. gegen Tyrus und Sidon
  • 29–32: Prophetien gegen Ägypten
Nach dem Untergang Jerusalems: Heilsprophetien für Israel (Hes 33–39)

Hesekiel kündigt eine neue Heilszeit für das Volk Israel an. Einen Schwerpunkt dabei bildet die Aussage, dass das Volk nicht zu einer Erneuerung aus sich heraus in der Lage ist, sondern dass die Erneuerung allein von Gott ausgeht (z. B. Aufwecken der Totengebeine). In diesem Zusammenhang kündigt Hesekiel auch einen kommenden Davidsohn an. Kap. 38–39 handeln von einer endzeitlichen Schlacht der Völker gegen Israel, aus der Israel siegreich hervorgehen wird.

  • 33: Das Wächteramt Hesekiels
  • 34: Die Königsherrschaft Gottes und seines Gesalbten
  • 35f: Gericht über die Berge Edoms; Israel wird wieder in seinen Bergen wohnen
  • 37: Die Vision von den Totengebeinen – Israel wird von Gott neu erweckt werden.
  • 38f: Weissagung gegen Gog aus Magog
Vision der neuen Gottesstadt (Hes 40–48)

Verschiedene Interpretationsansätze:

  1. a) Konkreter „Verfassungsentwurf“ für die nachexilische Gemeinde (der allerdings nicht umgesetzt wurde). Problem: die Beschreibung ist teilweise stark stilisiert, was einer konkreten Umsetzung widerspricht: So entspringt dem Tempel ein Fluss; das Land ist sehr schematisch an die zwölf Stämme verteilt; Höhen- und Materialangaben fehlen.
  2. b) Konkretes Modell für den dritten Tempel, der im 1000-jährigen Reich (Dispensationalismus) oder vom kommenden Messias errichtet werden wird (jüdisch). Problem: wie voriger Ansatz.
  3. c) Symbolische Darstellung der eschatologischen Gegebenheiten (vgl. Offb 22). Dem entspricht, dass die endzeitliche Gog-Vision vorausgeht. Allerdings findet sich kein typisch eschatologisches Vokabular wie „in den letzten Tagen“ usw. Auch ist die Rolle des Königs eingeschränkt; messianische Züge fehlen. Joh.-Offb. verwendet Motive aus Hes 40–48, hat aber eine eigenständige Aussage.
  4. d) Tempelvision als konkrete Darstellung einer geistlichen Realität (ideales Israel). Aussagen:
  • Jhwhs Heiligkeit wird wieder voll und ganz respektiert.
  • Jhwh wohnt wieder inmitten seines Volkes.
  • Vom geistlichen Zentrum ausgehend erhält das ganze Land Segen.
  • Das Stämmesystem wird gegenüber dem problematischen Königtum gestärkt.

Die strengen Regelungen sollen zeigen, wie heilig Gott ist. Sie sollen das Volk Israel beschämen (Hes 43,10f), damit sie von ihrer Laxheit gegenüber Gott lassen und neu Demut gegenüber Gottes Herrlichkeit und Heiligkeit lernen.

Zur Theologie Hesekiels

Die Theologie des Hesekielbuchs kann in vier Aspekten beschrieben werden: Die Gegenwart und Abwesenheit die Herrlichkeit (kevôd) JHWHs, die Erkenntnis Gottes aus seinem geschichtlichen Handeln, Reinheit und Unreinheit, kollektive und individuelle Vergeltung.[1]

  1. „Eines der theologischen Zentralthemen des Ezechielbuchs ist die Frage nach der Präsenz und Absenz Gottes in Jerusalem.“[2] Die Erscheinung der kevôd JHWH bringt Gottes Macht und Heiligkeit zum Ausdruck.
    1. Israel hat durch seine Sünde Gottes Heiligkeit missachtet. Daher verlässt die kevôd JHWH den Tempel und das Volk muss ins Exil gehen.
    2. Aber unter den Nationen entweiht Israel Gottes Namen. Die anderen Völker spotten über Israel und entweihen dadurch Gottes Namen.
    3. Gott kündigt an, seinen Namen erneut zu heiligen, indem er Israel wieder zurück in sein Land führt.
  2. Gotteserkenntnis aus seinem geschichtlichen Handeln: Ca. 70 Mal wiederholt das Hesekielbuch den Satz „sie sollen erkennen, dass ich JHWH bin“. In den Ereignissen um Exil und Restauration erlebt das Volk die Macht Gottes. Gott erweist sich an seinem Volk und an den Nationen in Gericht und Heil.
  3. Die Kategorien „Reinheit“ und „Unreinheit“ spielen im Buch eine wichtige Rolle. „ ‚Unreinheit‘ zieht sich als Motiv durch die Anklagen an das Volk hindurch und die eigene ‚Reinheit‘ ist ein vordringliches Problem für den Propheten. Mit diesem Motiv wird der priesterliche Hintergrund des Buchs deutlich: Für Volk wie Prophet gilt das Gebot, sich rein zu halten.“[3] Israel muss beschämt anerkennen, dass es ganz und gar unrein ist. Nur Gott selbst kann sein Volk erlösen und heiligen. Wenn Gott Israel erneuert hat, wird die kevôd JHWH wieder mitten unter seinem Volk wohnen.
  4. In Hes 18 wird gegen die (angenommene) Kollektivhaftung bei göttlichen Strafen polemisiert. Dabei werde ein neuer theologischer Gedanke über das geschichtliche Wirken Gottes eingeführt, der deutlich den Erwartungen der Hörer zuwiderlaufe: „Die Hörer des Ezechielbuches gehen angesichts des nationalen Untergangs fraglos davon aus, dass – vor Gott – Söhne für die Schuld der Väter mithaften. Dagegen postuliert Ez 18 neu das Prinzip individueller Verantwortlichkeit“.[4]

(Abschnitt zur Theologie erweitert von Jens Winarske)

[1] Vgl. Gertz (Hg.), Grundinformation AT 52016, 369–371.

[2] Schmid in Gertz (Hg.), Grundinformation AT 52016, 369.

[3] Schmid in Gertz (Hg.), Grundinformation AT 52016, 370.

[4] Schmid in Gertz (Hg.), Grundinformation AT 52016, 371.

bible-zoom.de ist die Webseite von Julius Steinberg, Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Ewersbach