Die Schriften / Ketuvim
Wer oder was sind die „Ketuvim“?
Die hebräische / jüdische Bibel wird auch bezeichnet als TaNaK, eine Abkürzung für „Tora, Neviim und Ketuvim“ oder Weisung/Gesetz, Propheten und Schriften.
Das Wort Ketuvim (Partizip Passiv von katav „schreiben“), bedeutet wörtlich die „Geschriebenen“ und ist hier im Sinne von „die übrigen Schriften der Bibel“ zu verstehen. Die Gruppe umfasst die folgenden Bücher:
Ruth, Psalmen, Hiob, Sprüche, Prediger, Hoheslied, Klagelieder, Daniel, Esther, Esra-Nehemia, Chronik
In der jüdischen Bibelüberlieferung werden die Ketuvim durchgehend als ein eigener Kanonteil behandelt.
Die griechische und lateinische Bibelüberlieferung, von der auch unsere heutigen Bibeln beeinflusst sind, kennt den Kanonteil der Ketuvim dagegen nicht als feste Gruppe. Meist sind die Geschichtsbücher der Ketuvim, also Ruth, Esther, Chronik, Esra und Nehemia, zu den übrigen Geschichtsbüchern gestellt; die Bücher Daniel und Klagelieder (traditionell „Klagelieder Jeremias“) werden bei den Propheten untergebracht, so dass z. B. in der Lutherbibel eine Restgruppe von „Lehrbüchern“ – Hiob, Psalter, Sprüche, Prediger und Hoheslied – übrigbleibt.
Warum ist es sinnvoll, die Ketuvim als Gruppe zu betrachten?
Insgesamt orientiert sich die griechische Überlieferung bei der Anordnung der Schriften an den formalen Kriterien Gattung, Chronologie, Autorschaft sowie kanonische Wertigkeit. Demgegenüber wirkt die jüdische Bibel, an formalen Kriterien gemessen, ungeordnet. Einer älteren Ansicht zufolge liegt der Grund dafür in der Kanonentwicklung: Die Buchgruppen seien in der Reihenfolge Gesetz, Propheten und Schriften kanonisiert worden (siehe aber Skript AT-Einleitung zur Kanonentstehung). Heute entdeckt man dagegen zunehmend die innere Einheit der jüdischen Kanonstruktur:
- Die Bücher Genesis–Deuteronomium und Josua–Könige bilden nicht nur eine chronologische Abfolge, sondern auch eine innere literarisch-theologische Einheit. Chronik, Esra, Nehemia und Esther können zwar chronologisch zugeordnet werden, sind von ihrer Anlage her aber eigenständig. Sie sind also in der jüdischen Bibel aus gutem Grund separiert.
- Daniel kann zwar als Prophet eingestuft werden, es handelt sich aber weder der Form noch dem Inhalt nach um ein typisches Prophetenbuch. Noch weniger gilt das für die Klagelieder.
Sowohl für die Geschichtsbücher als auch für die prophetischen Bücher hat der jüdische Kanon also die inhaltlich klarere Struktur. Muss dafür im Gegenzug eine größere „Restgruppe“ an „sonstigen Schriften“ in Kauf genommen werden? Auch diese Einschätzung ändert sich gegenwärtig.
- Einige Ausleger betrachten den Psalter mit seinem Torabezug in Ps 1 als bewusste Eröffnung des Kanonteils Ketuvim (z. B. Beat Weber).
- Die Chronik wiederum wird als bewusster Abschluss der Ketuvim sowie als abschließende Zusammenfassung der gesamten jüdischen Bibel angesehen (G. Steins, H. Koorevaar).[1]
- Für einen inneren Zusammenhang aller elf Bücher der Ketuvim argumentieren z. B. J. Steinberg und T. Stone.[2]
Theologische Gliederung der Hebräischen Bibel, Rolf Rendtorff:
In der Tora handelt Gott (spez. Befreiung Israels aus Ägypten)
In den Neviim redet Gott (spez. Schriftpropheten)
In den Ketuvim reden die Menschen zu Gott und von Gott (spez. Ps & Weisheit)
Nach H. Koorevaar drei Weisen der Offenbarung:
Kohanim: „Priesterkanon“ (priesterliche Perspektive; hebr. kohen: Priester)
Neviim: „Prophetenkanon“ (prophetische Perspektive)
Ketuvim: „Weisheitskanon“ (weisheitlich-schriftgelehrte Perspektive)
[1] Georg Steins, »Torabindung und Kanonabschluß: Zur Entstehung und kanonischen Funktion der Chronikbücher«, in: Erich Zenger, Hrsg., Die Tora als Kanon für Juden und Christen, HBS 10 (Freiburg u. a.: Herder, 1996), 213–256; Hendrik J. Koorevaar, »Die Chronik als intendierter Abschluß des alttestamentlichen Kanons«, JETh 11 (1997), 42–76; vgl. Julius Steinberg, »Die Chronik – eine ›Theologie‹ des Alten Testaments«, in: Herbert H. Klement und Julius Steinberg, Hrsg., Freude an Gottes Weisung: Themenbuch zur Theologie des Alten Testaments, 2. Aufl. (Riehen/Basel: arteMedia, 2012), 173–196.
[2] Julius Steinberg, Die Ketuvim: Ihr Aufbau und ihre Botschaft, BBB 152 (Hamburg: Philo, 2006); Timothy J. Stone, The Compilational History of the Megilloth: Canon, Contoured Intertextuality and Meaning in the Writings, FAT II / 59 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2013); Julius Steinberg und Timothy J. Stone, »The Historical Formation of the Writings in Antiquity«, in: dies., Hrsg., The Shape of the Writings, With the Assistance of Rachel Stone, Siphrut: Literature and Theology of the Hebrew Scriptures 16 (Winona Lake, Indiana: Eisenbrauns, 2015), 1–58.
Seit wann gibt es die Ketuvim?
Die einzelnen Bücher der Ketuvim sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und den heiligen Schriften zugeordnet worden. Die erste Erwähnung einer Schriftengruppe der „übrigen Schriften“ findet sich im Prolog zum Sirachbuch (um 130 v. Chr.).
V.1 durch das Gesetz, die Propheten und die anderen, die ihnen folgen
V.3 des Gesetzes, der Propheten und der anderen Bücher der Väter
V.7 das Gesetz selbst, die Prophetien und die übrigen Bücher
Der Prolog stammt vom Enkel Ben Sirachs, der nach eigenen Angaben das Werk seines Großvaters ins Griechische übersetzt hat. Er charakterisiert Ben Sirach zutreffend als einen Ausleger der Heiligen Schriften. In diesem Zusammenhang stehen die drei Formulierungen.
–> Die dreimalige Wiederkehr der dreiteiligen Formel macht deutlich, dass der Enkel Ben Sirachs eine feste Struktur der Überlieferung vor Augen hat.
–> Durch die Benennung der ersten beiden Kanonteile als „Gesetz“ und „Propheten“ steht eindeutig fest, dass es um die jüdische Bibel geht.
–> Der dritte Kanonteil ist jeweils in einer unterschiedlichen Formulierung wiedergegeben, aber an allen drei Stellen mit bestimmtem Artikel (die übrigen Bücher). Demnach ist eine fest umrissene Buchgruppe ins Auge gefasst, für die allerdings kein griechischer Fachbegriff existiert.
Erwähnung der Schriftengruppe Ketuvim im Neuen Testament?
Lukas 24,44 „Es muß alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht
im Gesetz des Mose, in den Propheten und in den Psalmen.“
–> Die Psalmen werden hier möglicherweise pars pro toto für den dritten Kanonteil genannt. Allerdings ist zu dieser Zeit ansonsten die zweiteilige Bezeichnung der Bibel, „Mose und die Propheten“, häufiger. Hier bezeichnet das Wort „Propheten“ alle Bücher der hebräischen Bibel mit Ausnahme des Pentateuchs.
Gelegentlich wird aus der Bezeichnung „Gesetz und Propheten“ der Schluss gezogen, die Ketuvim seien zur Zeit des Neuen Testaments noch nicht „kanonisiert“ gewesen. Dies ist aber ein Missverständnis des Begriffs „Propheten“. Das NT subsumiert die später als Ketuvim bezeichneten Bücher unter dem Begriff „Propheten“. Beispielsweise zitieren die neutestamentlichen Autoren selbstverständlich auch aus Büchern der Ketuvim.
Was sind die „Megillot“?
Innerhalb der Ketuvim bilden fünf Bücher eine eigene Gruppe: die tALgIm. Megillot (wörtlich „Schriftrollen“; Megilla: Schriftrolle). Es handelt sich um Bücher, die innerhalb des jüdischen Festkalenders jeweils an einem Festtag vollständig verlesen werden:
- Esther: Purimfest
- Hoheslied: Pessach (Passafest)
- Ruth: Schavuot (Wochenfest)
- Prediger: Sukkot (Laubhüttenfest)
- Klagelieder: Tischa b’Av (Fastentag am 9. Av)
Dieses liturgische Phänomen hat sich allerdings erst zwischen dem 6. und 10. Jh. n. Chr. entwickelt (so die verbreitete Standardmeinung). Es hat dazu geführt, dass in vielen Bibelausgaben die Megillot innerhalb der Ketuvim als Gruppe zusammengestellt wurden. In manchen Fällen erscheinen die Megillot sogar als eigener Kanonteil außerhalb der Ketuvim.
Wie sind die Bücher innerhalb der Ketuvim angeordnet?
Die Reihenfolge der Bücher innerhalb der Ketuvim variiert in den Bibelhandschriften recht stark. Bestimmte Anordnungstraditionen sind allerdings von übergreifender Bedeutung. An dieser Stelle sollen zwei Ordnungen dargestellt werden:
- Die Reihenfolge nach dem Babylonischen Talmud, Traktat Baba Bathra 14b. Es handelt sich um den ältesten verfügbaren Beleg für eine Kanonordnung im jüdischen Bereich. Die Textstelle beruft sich auf die Überlieferung durch die „Rabbanan“, die Rabbis, die in der Zeit von ca. 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. wirkten. Die Informationen basieren demnach auf sehr alter jüdischer Tradition und sind zugleich von jüdischer Seite offiziell autorisiert.
- Die Reihenfolge in der wissenschaftlichen Ausgabe der hebräischen Bibel (Biblia Hebraica Stuttgartensia, BHS) richtet sich dagegen weitgehend nach einem Bibelmanuskript aus dem 10. Jh. n. Chr., dem sog. Codex Leningradensis. Es handelt sich um die älteste vollständige Handschrift der jüdischen Bibel.
Der Unterschied zwischen beiden Reihenfolgen besteht darin, dass im Codex Leningradensis und in der BHS die fünf Megillot zu einer Gruppe zusammengestellt sind, während dies in der Anordnung des Babylonischen Talmud noch nicht der Fall ist.
Die Interpretation der Ketuvim als Gruppe nach J. Steinberg
Der Kanonteil der Ketuvim:
- größte Vielfalt an Themen, Gattungen und Formen –> in literarischer Hinsicht sicher der abwechslungsreichste Kanonteil
- wichtige und viel zitierte Bücher wie Psalmen, Daniel
- umstrittene Bücher und Bücher, die sich schwierig in den Gesamtzusammenhang der alttestamentlichen Botschaft integrieren lassen: Weisheitsbücher (Hiob, Sprüche, Prediger), Hoheslied, Esther
J. Steinberg, Die Ketuvim: Ihr Aufbau und ihre Botschaft, Bonner Biblische Beiträge 152 (Hamburg: Philo, 2006), 443–454.
Ansatz:
- Als Reihenfolge für die Ketuvim die im Talmud angegebene Ordnung verwenden (babylonischer Talmud, Traktat Baba Bathra, Folio 14b).
- Diese Reihenfolge als theologische „Leseordnung“ interpretieren. Strukturell-kanonische Methode.
Ergebnisse:
- Die Einzelbücher fügen sich zu einer inneren literarisch-theologischen Ordnung zusammen.
- Die Psalmen und die Chronik bilden dabei einen Rahmen. Beide Bücher präsentieren einen umfassenden Geschichtsrückblick. Beide legen einen Fokus auf das Königtum und seine Geschichte sowie auf den Tempel und die Liturgie. Beide haben einen zusammenfassenden, synthetisierenden Charakter.
- Die Buchgruppe Hi – Spr – Pred – Hld lässt sich als weisheitliche Reihe interpretieren, als Weg des Einzelnen mit Gott, von Leid zu Freude.
- Die Buchgruppe Klg – Dan – Est – EsrNeh lässt sich als national-historische Reihe interpretieren, als Weg des Volkes zurück zu Gott, von Leid zu Freude.
- Das Buch Ruth fungiert als Einleitung und Hinführung. Es nimmt das zentrale Thema von Exil und Heimkehr vorweg. Es zeigt den universalen Rahmen auf – eine Moabiterin wird Teil des Gottesvolkes.
Die Idee hinter der strukturell-kanonischen Methode ist, dass der literarische Ort eines Buches im Kanon auch seinen theologischen Ort bestimmt. Mit Hilfe der strukturell-kanonischen Methode lässt sich die Botschaft dieser so unterschiedlichen Bücher innerhalb der Ketuvim als zusammengehörige Einheit begreifen. Die Konzentration auf wenige Begriffe (zwei Häuser, zwei Wege) kann auch als Reduktion missverstanden werden. Das Anliegen ist vielmehr, ein strukturelles Gerüst zu entwickeln, in dem die einzelnen Bücher ihren Platz finden. Die Struktur bietet die Möglichkeit zum „Einzoomen“ und „Auszoomen“: Vom gesamten Kanon auf die Kanonteile, von da aus auf die Buchgruppen, die Einzelbücher innerhalb der Gruppen, die literarischen Hauptteile der einzelnen Bücher bis zu den einzelnen Szenen und Versen – und wieder zurück. So werden die Einzelaussagen gewürdigt und zugleich in einen literarisch-theologischen Kontext gestellt.